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Geburt und Tod Allvaters
Es gibt einige Unklarheiten darüber, ob Wodan schon immer existent war, oder erst später geschaffen oder geboren wurde und ob Er ewig ist, oder doch irgendwann sterben oder Sich wandeln wird.
Zugegeben, dieses Gebiet wird uns Menschen sicher immer verschlossen sein, doch enthalten unsere Überlieferungen einige Andeutungen, die uns ein wenig weiterhelfen können. Ich will versuchen, die sich teilweise widersprechenden Quellen hier einmal zu interpretieren.
In der Gylfaginning 3 fragt der Schwedenkönig Gangleri/Gylfi den Gott Wodan (der hier Hárr, Jafnhár und Þriði heißt) selbst nach dem Ursprung Allvaters (d. h. nach Seinem eigenen Ursprung):
>3. Da hub Gangleri an zu sprechen: Wer ist der höchste und älteste aller Götter? Hárr sagte: Alföður heißt er in unserer Sprache und im alten Ásgarðr hatte er zwölf Namen. Der erste ist Alföður, der andere Herran oder Herjan, der dritte Nikar oder Hnikar, der vierte ist Nikuss oder Hnikuður, der fünfte Fjölnir, der sechste Óski, der siebente Ómi, der achte Bifliði oder Biflindi, der neunte Sviðar, der zehnte Sviðrir, der elfte Viðrir, der zwölfte Jálg oder Jálkur. Da fragte Gangleri: Wo ist dieser Gott, und was vermag er? Oder was hat er Großes getan? Hárr sagte: Er lebt durch alle Zeitalter und beherrscht sein ganzes Reich und waltet aller Dinge, großer und kleiner. Da sprach Jafnhárr: Er schuf Himmel und Erde und die Luft und alles, was darin ist. Da sprach Þriði: Das ist das wichtigste, daß er den Menschen schuf und gab ihm Önd (Atem, Seele) der leben soll und nie vergehen, wenn auch der Leib in der Erde fault oder zu Asche verbrannt wird. Auch sollen alle Menschen leben, die wohlgesittet sind, und mit ihm sein an dem Orte, der Gimlé heißt oder Vingólf. Aber böse Menschen fahren zu Hel und danach gen Niflhel; das ist unten in der neunten Welt. Da fragte Gangleri: Was tat er, bevor Himmel und Erde geschaffen waren? Hárr antwortete: Da war er bei den Hrímþursen.<
Die Aussage ist völlig eindeutig: Er lebt durch alle Zeitalter. Das klang einigen Forschern christlich und sie wähnten hier einen entsprechenden christlichen Einfluß. Doch im gleichen Text wird das Wort „Önd“ für „Seele“ verwendet, welches ein eindeutiges heidnisches Wort ist. Christen gebrauchten dafür (z. B. auf einigen hundert christlichen Runensteinen) den Begriff „Salu“ (Seele). Offenbar scheint also diese Stelle doch heidnisch zu sein. Aber einen Gott, der ewig lebt und alles geschaffen hat, der dazu auch noch „Alföður“ (Allvater) heißt, das wollte man den Heiden nicht zubilligen. Der heidnische Gott hat endlich zu sein, also muß Er irgendwann einmal geboren sein und wird irgendwann sterben. Damit will man Ihn im Vergleich zum Christengott als kleiner darstellen.
Wie kann man denn nun aber belegen, daß diese Darstellung in der Jüngeren Edda tatsächlich heidnisch und nicht christlich beeinflußt ist? Das könnten wir wahrscheinlich nicht, hätten wir nicht einen alten Erntespruch, der im 17. Jh. aufgeschrieben wurde und unzweifelhaft Wodan nennt:
>Wold, Wold Wold!
Häwenhüne weit, wat schüht.
Jümm hei dal van Häwen süht.
Vulle Kruken and Sangen hätt hei.
Upen Holte wäst mannigerlei.
Hei ihs nig barn and wärt nig oold.
Wold, Wold, Wold!<
Der Vers spricht Wodans Allwissenheit an (2. Zeile), erwähnt Seinen Ort im Himmel (3. Zeile), erwähnt Seinen Garbenreichtum (4. Zeile), spielt auf den Mythos des Hängens an der Weltesche an (5. Zeile) und sagt deutlich: „Er ist nicht geboren und wird nicht alt“ (6. Zeile). „Barn“ (vgl. englisch born = geboren) kann auch “Kind” (eigentlich: „Das Geborene“) bedeuten, doch in diesem Zusammenhang paßt die Übersetzung „Er ist kein Kind und wird nicht alt“ weniger. Der Vers ist Beweis dafür, daß man auch hierzulande davon ausging, daß Wodan ewig lebt, wie es die Edda sagt. Das Eddazitat bringt übrigens Wodans ewiges Leben mit dem ewigen Leben der Menschenseelen zusammen. Würden wir also von einem endlichen Gott ausgehen, dann hieße das auch, daß unsere eigenen Seelen endlich wären, denn ein endlicher Gott kann nichts Unendliches schaffen. Unsere Seelen sind aber unsterblich, das ist Glauben in vielen Religionen. Die Physiker lehren, daß nichts auf der Welt vergehen kann, es wandelt sich nur stetig. Warum sollten nun ausgerechnet unsere Seelen von diesem Grundprinzip abweichen?
Abb.: 1. Schöpfungstag. Weltchronik 1493.
Im alten Verständnis ist Wodan auch Gott des Sturmes oder Windes. Das ist eine materielle Zuordnung zu Seinem geistigen Prinzip des Odems, des göttlichen Lebenshauches, des Ods. Wodan ist nämlich auch Seelenführer und zu Ihm gelangen die Seelen der Verstorbenen. Was wir uns für eine spirituelle Welt entsprechend vorstellen (oder was sich unsere Vorfahren so vorstellten, weil es ihnen so offenbart wurde und was wir von ihnen übernehmen), finden wir in den Vorgängen der materiellen Welt in symbolisch verdichteter Form auch: Das Kind beginnt sein Leben mit dem ersten Atemzug – die Luft (der Atem) durchdringt es und gibt ihm das Leben. Der Sterbende beendet sein Leben mit dem Ausatmen des letzten Atemzuges – die Luft (der Atem) geht wieder aus dem Körper heraus dorthin, woher er gekommen war. Die Luft (der Atem) umgibt uns immer noch, doch der Wind trägt diesen Atem mit sich fort. Der Windgott ist also derjenige Gott, der die individuellen Seelen der Menschen (ihren Atem) mitnimmt und mit diesem Atemknäuel durchwebt der Gott mit seinem Seelengefolge (der „Wilden Jagd“) nun auch wieder Neugeborene, die so den Atem, erhalten und damit belebt werden.
Die Verkörperung der Seele im Atem ist ein anschauliches Bild, das viel besser ist als das Konzept einer Seele, die aus einem Teich kommt oder in einen Teich geht (Salu, Seele bedeutet „zum See gehörig“), wenngleich dieses Bild auch in Frau Holles Kinderbrunnen oder im Höllenpfuhl noch heidnisch fortlebt.
Wie kann es nun sein, daß Wodan zwar ewig existiert, Er aber vor der Erschaffung von Himmel und Erde bei den Hrimþursen gewesen ist, wie Er es selbst in der Gylfaginning ausführt? Das hängt damit zusammen, daß die Materie als riesisch gilt und erst durch die Schöpfung das Göttliche in sie hineinkam. Aber auch das Riesische muß irgendwann einmal von Allvater geschaffen worden sein, sonst wäre Er ja nicht Allvater (Vater aller Wesen). Diese Riesen in der Urzeit, als es weder Himmel, noch Erde, noch andere Götter gab, waren nicht böse wie die späteren Riesen, sondern neutral. Erst als die Götter etwas Göttliches schufen, entstand eine Polarisation, eine Teilung in gut (göttlich) und böse (riesisch). Hrimþurse ist ein doppeldeutiges Wort, was sowohl „Hreifriese“, als auch „Rußriese“ bedeuten kann. Wahrscheinlich war diese Doppeldeutigkeit beabsichtigt. Der Reifriese ist der Frostriese, ist also eine Bezeichnung für die Kälte, der Rußriese hingegen bezeichnet die dunkle, also rußige Nacht. „Þurse“ kann zwar „Dürster“ bedeuten, doch ist die Ableitung von Thuras = Kraft doch etwas glaubwürdiger.
Was noch sehr wichtig ist zu beachten: Unser Eddavers spricht von Alföðr, also Allvater. Allvater ist zwar unzweifelhaft Wodan, und auch die 12 aufgezählten Namen (darunter das uralte Omi, indisch Om oder Aum) sind eindeutige Namen Wodans. Warum also ist die Rede von Allvater, statt von Wodan bzw. Óðinn? Diese Unterscheidung ist durchaus bezweckt, denn die Götter existieren auf verschiedenen Ebenen, auf einer göttlichen Ebene und auch in der Materie. Denn als die Götter die Materie geschaffen hatten, wollten Sie diese auch gestalten und mußten Sich selbst damit auf diese Ebene begeben. Das wußten unsere Vorfahren noch und daher sahen sie keinen Widerspruch darin, daß in dem gleichen Eddastück erzählt wird, daß Wodan ewig lebt und auch, daß Er beim Ragnarök vom Wolf verschlungen werden wird.
Wir wollen nun aber wissen: Wer hat Allvater geschaffen, war Allvater schon immer und ewig? Es wäre denkbar, daß dieses Wesen schon immer existierte und irgendwann in dieser Ewigkeit begann, etwas zu schaffen und Sich zu wandeln. Es wäre aber genauso denkbar, daß dieses Wesen entstanden ist und somit geschaffen wurde. Letzteres aber kann nicht sein, wenn wir von der Richtigkeit unser beider Zitate ausgehen. Wenn Wodan ewig besteht, dann wurde Er nicht geschaffen. Wäre Er geschaffen worden, müßte es wiederum einen Schöpfer geben, und dann könnten wir fragen: Wer hat diesen Schöpfer geschaffen? Unsere Frage würde also nur eine Generation weiter zurück gegeben werden. Das ist genauso wie bei den Anhängern von wirren UFO-Theorien: Danach sollen Außerirdische die Menschen hier auf diesem Planeten geschaffen oder ausgesetzt haben. Die Suche nach „Gott“ führt dann also nur zu Aliens, was für religiöse Menschen eine Enttäuschung ist. Aber man darf fragen: Wer hat denn diese Aliens geschaffen? Und schon findet man sich bei der gleichen Frage nach Gott und dem Ursprung wieder, wie zuvor eine Generation höher.
Abb.: 3. Schöpfungstag. Schedel 1493.
Ein Wesen wie das, welches wir später Wodan nannten, ist natürlich in Sich auch wandelbar, es bleibt nicht ewig völlig gleich. Das können wir schon daran sehen, daß Allvater irgendwann einmal begonnen hatte, etwas zu erschaffen. Die Schöpfung hat also einen Anfang und auch ein Ende, Allvater aber ist ewig. In der Strophe 54, der krönenden Abschlußstrophe der Offenbarung Wodans, die in den Grimnismál aufgezeichnet ist, sagt der Gott etwas zu Seinem Ursprung:
>Óðinn heiß ich nun, Yggr hieß ich eben,
Þundr hab ich geheißen.
Vakr und Skilfingr, Váfuðr und Hroptatýr,
Gautr und Jálkr bei den Göttern,
Ofnir und Sváfnir: deren Ursprung weiß ich
Aller aus mir allein.<
Óðinn Selbst sagt also, daß Sein Ursprung aus Sich heraus stammt. Der Gott war schon immer da und hat Sich selbst – Seine verschiedenen Charaktere, in den Namen personifiziert - geschaffen (im Sinne von: Gewandelt, Seine Urwesenheit differenziert, sich selbst geschaffen).
Wir haben also: Ein Wesen, daß Seinen Ursprung aus sich selbst heraus herleitet, und welches Alföðr, also Vater aller (Wesen, Götter, Geschöpfe) ist. Gylfaginning 9 der Jüngeren Edda besagt:
>Und darum mag er Alföðr heißen, weil er der Vater ist aller Götter und Menschen und alles dessen, was er durch seine Kraft hervorgebracht hat.<
Das schließt übrigens auch die Vanen mit ein. Damit sollte eigentlich alles klar sein. Nur haben wir auch unsere Mythen, die von der Geburt Óðins und Seinem Ende berichten.
Óðinn ist mit Seinen Brüdern Vili und Vé Sohn Bors (Burs). Borr/Burr bedeutet „der Geborene“ bzw. „der Sohn“ und ist der Sohn von Búri und der Riesin Bestla. Búri wurde von der Urkuh aus dem Eis geleckt und wird als „Mann“ bezeichnet, nicht als Riese. Búri kam – das können wir annehmen – von der Flammenwelt Muspillzheimr in das Eis, und Muspillzheimr war die erste aller Welten, die Prof. Frederik Sander als Welt der noch ungeschaffenen Sonne und des Ur-Óðinn deutete.
Nachdem die Götter bzw. Alföðr die Materie entstehen ließ, begab Er sich in die Materie, um sie gestalten zu können, um also hier weitere Welten erschaffen zu können. Wir Menschen erkennen die Götter hinter unseren Naturerscheinungen, wir wissen aber, daß die Götter viel mehr sind, als Naturerscheinungen. Wir dürfen uns also von dieser Existenz der Götter nicht verleiten lassen, die Götter als endliche oder irgendwie begrenzte Wesen anzusehen.
Die weitere Genealogie der Götter ist bekannt: Der Riese Nörfi (Narfi) hatte die Nótt (Nacht) zur Tochter. Der zweite Ehemann der Nótt war Annar und von ihm bekam Nótt die Jörd (Erde) als Tochter. Annar („der Andere“) ist Óðinn, denn in Gylf. 9 heißt es ja über Óðinn:
>Jörð war seine Tochter und seine Frau und von ihr gewann er den ersten Sohn: Das ist Asaþórr.<
Óðinn nahm nun also Seine eigene Tochter und zeugte mit Ihr den Sohn Þórr. Mundilföri war der Vater der Sól, und Óðinn zeugte mit Sól (Sonne) den Sohn Týr. Týr aber zeugte mit Jörð die Göttin Frigg. Vielleicht ist Mundilföri ein Name Óðins, in einer Fornaldar saga ist Sól die Tochter Dags („Tag“, auch: der Gott Baldr), jedenfalls eines Gottes. Wäre der Vater der Sól ein Riese, wäre Sie keine Göttin, aber wir wissen, daß Sól bei den Germanen als Göttin verehrt wurde.
Ich will den Stammbaum hier beenden, denn die Einzelheiten sollen nicht unser Thema sein. Wer mit menschlichen Maßstäben an diese Genealogien herangeht, der wird vielleicht Inzucht beklagen und auch wegen des Alters seine Bedenken äußern. Aber wir sprechen hier von Gottheiten, die (nachdem Sie einmal erzeugt worden sind) nun ewig leben werden. Ein zu geringes Alter gibt es da also ebensowenig, wie eine genetische Inzucht. Am Anfang war nur eine Gottheit, Alföðr, und also kann die Erzeugung weiterer Gottheiten nur in Form von Inzucht gehen. Inzucht ist bei Menschen ungünstig, nicht aber bei Gottheiten. Da ist sie gerade von Vorteil, denn je enger die Verwandtschaft zu Alföðr ist, desto besser.
Wir wollen uns nun noch einige Gedanken zum Ende der Götter und dem Ragnarök machen. Daß diese Bezeichnung eben nicht „Götterschicksal“ oder „Göttermorgendämmerung“ bedeutet, hatte ich bereits mehrfach geschrieben und war zu dem Schluß gekommen, daß „Ragnarök(r)“ „Göttergericht“ (über die Welt) bedeuten muß. Diese Deutung hatte dann auch Prof. Simek übernommen. Das wird auch dadurch bestätigt, daß zuweilen statt „Ragnarök“ eben „Regindomr“ (Göttergericht) geschrieben wurde.
Die Götter haben die Welt geschaffen, haben Verantwortung für die Welt, haben mit der Schöpfung etwas bezweckt. Sie erkennen, daß die riesischen Kräfte zu groß werden und ihre Schöpfung nicht in dem Sinne geht, wie es gedacht war: Verbrechen und Neidingstaten überall. Deswegen laden die Götter alle zu einem großen Thing, Heimdallr ruft mit Seinem Horn dieses Thing zusammen. Hier müßten nun die Schuldigen angeklagt und verurteilt werden, doch diese kommen natürlich nicht zum Thing. Deswegen müssen die Götter zu den Waffen greifen, um die Verbrecher auf das Thing zu bekommen. Dieses Thing findet dann ja auch statt, Alföðr setzt ewige Satzungen ein. Aber es gibt zuvor den großen Kampf. Hier scheinen nun einzelne Götter zu sterben, und das ist etwas, was es ja eigentlich nicht geben kann.
Ódinn wird mit dem Fenriswolf kämpfen und von ihm verschlungen, Vidarr wird Seinen Vater rächen und den Wolf töten, denn Þórr kann das nicht, da Er mit der Miðgarðschlange kämpfen muß; in diesem Kampfe fallen beide, Freyr wird durch Surt getötet, Garmr der Höllenhund kämpft mit Týr und sie fallen beide, Loki und Heimdallr erschlagen sich gegenseitig. Die Sól wurde vom Wolf Sköll verschlungen, der laut Vaþruðnismál dem Fenriswolf entspricht.
Es sind also außer Baldr nur sechs Gottheiten, die fallen werden: Óðinn, Þórr, Freyr, Týr, Heimdallr und Sól. Wenn wir bedenken, daß wir insgesamt 26 Gottheiten haben, dann sind also fast ¾ von Ihnen gar nicht betroffen. Aber bleiben wir bei den Gottheiten, die fallen werden.
Beim Gott Þórr ist der Tod am wenigsten eindeutig. In Völuspá 56 heißt es nur:
>Es geht neun Fuß Fjörgyns Sohn
Knapp weg von der Schlange, der Schande frei.<
Da steht nichts von einem Tod, und wir können diese Stelle vielleicht gleich vor die folgende der Þrymsqviða setzen:
>Wild ward Vingþórr als er erwachte
Und seinen Hammer vorhanden nicht sah.
Er schüttelte den Bart, er raufte das Haar,
Allwärts suchte der Jörð Sohn.<
Þórr wird also in der älteren Vorstellung nur in eine Art Schlaf versetzt durch das Gift der Schlange, die er erschlagen hatte, und später erwacht Er wieder. In der Jüngeren Edda wird es so geschildert (Gylf. 51):
>Þórr erschlägt die Miðgarðschlange und läuft noch neun Schritte weit. Dann fällt er wegen des Giftes, das die Schlange auf ihn bläst, tot zur Erde<.
Vielleicht sollte man das Ende der Stelle in dem Sinne lesen, als stünde da „wie tot zur Erde“.
Über Óðinn lesen wir hier:
>Der Wolf verschlingt Óðinn, was dessen Tod ist. Aber gleich darauf stürmt Viðarr vor und tritt mit einem Fuß in den Unterkiefer des Wolfes ... Mit einer Hand packt Viðarr dann den Oberkiefer des Wolfes und reißt sein Maul entzwei. Das bringt ihm den Tod.<
Hier kommt es auf die genaue Übersetzung an und auf das nötige Verständnis von Mythen. Es ist ein Mythos vom Licht und der Dunklheit, ein Wolf verschlingt nicht einfach einen Menschen oder Gott, das gibt es nur im Märchen, aber auch dort gibt es immer eine Fortsetzung, etwa in „Der Wolf und die sieben jungen Geislein“:
>Damit schnitt sie (die alte Geis) ihm (dem Wolf) den Bauch auf, und die sechs Geiserchen, die er in der Gier ganz verschluckt hatte, sprangen unversehrt heraus.<
Bei Rotkäppchen ist es ganz ähnlich:
>Da nahm er (der Jäger) die Schere und schnitt ihm (dem Wolf) den Bauch auf, und wie er ein paar Schnitte getan, da sah er das rote Käppchen leuchten, und wie er noch ein wenig geschnitten, da sprang das Mädchen heraus und rief: „ach wie war ich erschrocken, was wars so dunkel in dem Wolf seinem Leib“; und dann kam die Großmutter auch lebendig heraus.<
Rotkäppchen ist natürlich die Sonne, die vom Winterwolf verschlungen wird, wie Óðinn Himmels- und Sonnengott ist und gleichfalls vom Winterwolf verschlungen wird. Oder die Göttin Sól vom Wolf Sköll (Fenris) verschlungen wird. Auch Týr ist ein alter Sonnengott (darauf deutet Sein Name hin) und wird von einem Dunkel- oder Unterweltshund verschlungen. Bezeichnend ist eben, daß von einem „Verschlingen“ die Rede ist, nicht von einem Zerfleischen oder ähnlichem, und daß Viðars Rache darin besteht, dem Untier den Rachen groß aufzureißen – wozu das, wenn es nicht darum geht, daß Óðinn wieder unversehrt herauskommen kann?
Wir müssen uns einmal klarmachen, was die Wölfe im Naturmythos bedeuten. Sie sind Verkörperungen des Winters, der Nacht und des Dunkels. Es gibt ein Sternbild „Großer Wolfsrachen“, welches im Winter hoch am Himmel steht und das Dunkel des Winters bedeutet. Das Dunkel aber entsteht allein durch die Abwesenheit des Lichtes und durch den Schatten z. B. der Erde. In der Nacht ist es dunkel, weil die Sonne hinter der Erde, also auf der anderen Seite, steht. Das wußten auch unsere Vorfahren mit ihren ausführlichen Himmelsbeobachtungen und Observatorien (z. B. Stonehenge, Goseck usw.).
Abb.: 4. Schöpfungstag. Schedel 1493.
Wenn Óðinn also vom Fenriswolf verschlungen wird, ist nichts anderes im mythischen Bilde ausgedrückt, als die Tatsache, daß die Sonne nun nicht zu sehen ist, denn es ist Nacht (bzw. Winter). Das ist die naturmythologische Grundlage der Bilder von Sonnengottheiten (Óðinn, Týr, Sól) und Dunkelwölfen (Fenris, Garmr, Sköll). Aber wir wissen auch, daß es nach einer Nacht wieder einen neuen Tag geben wird, nach einem Winter folgt ein neuer Sommer. Das Bild ist also nur vollständig, wenn wir die Rückkehr dieser Götter dazunehmen. Und genau diese Rückkehr Óðins beschrieb eine Strophe der Völuspá, die Christen in der Abschrift des Codex Regius wegließen, die aber durch einen glücklichen Zufall noch in der Handschrift der Hauksbok erhalten geblieben war:
>Da kommt der Reiche zum Regin-Gericht,
Stark, von oben, der über alles entscheidet;
Er spricht Urteile, schlichtet Streite,
Setzt heiliges Schicksal, wie es sein soll.<
Und auch unsere Volkssagen vom König im Berge, der auf Seine Wiederkunft harrt (Barbarossa, Karl, Artus) bestätigen die Rückkehr des Gottes.
Auch die verwandten indogermanischen Mythologien kennen zwar Andeutungen von einem großen Kampf und auch den Wechsel der Zeitalter, aber kein Sterben der Götter ohne eine Wiederkehr. Daß ein im Kampfe fallender Óðinn dann ja auch nach Valholl kommen müßte, also einen Ort, wo Er sich sowieso aufhält, ist ein anderer Aspekt. Baldrs Tod hat ja gezeigt, daß er in Wahrheit nur ein zeitweiliger Umzug ist: Vom Reich der Götter in das Reich der Hel. Das Reich der Hel aber war in ältester Vorstellung nur ein Bereich im Götterreich, nämlich der, wo Frau Holle herrschte, Baldrs Mutter Frigg. Der Mythos von Baldrs Tod soll also nur den Wechsel der Jahreszeiten andeuten, der Gott Baldr in der kosmischen Ebene bleibt im Götterreich und stirbt nicht. So auch bei den anderen Göttern, etwa Þórr, dessen Fallen die Zeit im Jahr ohne Gewitter symbolisieren soll. Der Kampf von Freyr und Surt scheint ein Bild für die untergehende Sonne (Freyr) zu sein: Surt ist das Feuer der Abendröte, in der die Sonne vergeht und dieses Feuer erlischt hernach auch: Freyr und Surt werden aber am nächsten Tage neu erstehen. Heimdallr (Mond, Nachttau) und Loki (Feuer des Abendrotes) deuten auf den Mond und die Abend- bzw. Morgenröte hin.
Wir sollten uns also bewußt sein: Götter können nicht sterben außer in den Naturmythen des Jahres.
Abb.: 5. Schöpfungstag. Schedel 1493.
© 2012 Allsherjargode Géza v. Nahodyl Neményi